3. Adventliche Stunde


Der kleine Tag

Nach dem Märchen von Wolfram Eicke

Es war einmal ein kleiner Tag. Er lebte mit seinen Eltern und Geschwistern dort, wo alle Tage leben, bevor sie auf die Erde kommen und wo sie auch nachher bleiben, wenn die Nächte sie wieder von der Erde verscheucht haben. Kein Mensch weiß, wo dieser Ort ist, denn wer könnte schon sagen, wo die Tage bleiben, wenn sie ihren Dienst getan haben?

Jeden Abend, wenn ein Tag von der Erde zurückkam, trafen sich alle Tage im großen Versammlungszimmer und der gerade zurückgekommene Tag musste von seinen Erlebnissen berichten. Die Anwesenden lauschten gebannt den großen und kleinen Abenteuern, den spannenden und traurigen Erlebnissen.

Der Vorsitzende der Versammlung – der älteste Tag – würdigte oder tadelte den Tag. Ein Lob gab es immer dann, wenn der Tag etwas erlebt hatte, das den Menschen in Erinnerung bleiben würde. Etwas, das man auf der Erde nicht o schnell vergaß oder von dem man noch lange redete. Etwas Besonderes eben – egal ob gut oder böse.

Der kleine Tag durfte noch nicht auf die Erde. Ihr müsst nämlich wissen, dass jeder Tag nur ein einziges Mal auf die Erde darf – und das nur zu einem ganz bestimmten Termin. Die Reihenfolge war genau festgelegt.

Für den kleinen Tag hieß das, noch über vier Wochen zu warten. Und diese Warterei war unendlich schwierig für den kleinen Tag. Jeden Abend kam er als erster zur Versammlung, suchte sich einen Platz in der vordersten Reihe und hörte sich die neuesten Abenteuer an. Vor ein paar Tagen war seine Tante zurückgekommen. Sie erzählte in den schillernsten Farben von der Hochzeit eines Königspaares. Der kleine Tag stellte sich alles ganz genau vor. Keine Frage, das war ein besonderer Tag!

Sein Onkel wiederum erlebte einen grandiosen Sieg eines Tennisspielers. Die Menschen jubelten und applaudierten! Da wäre der kleine Tag gerne dabei gewesen.

Sein Cousin prahlte damit, wie er erlebte, dass ein Bergsteiger einen Berg erklommen hatte, den vor ihm noch nie jemand bestiegen hatte.  Dort oben war die Aussicht bestimmt unglaublich schön!

So erzählte die Verwandtschaft tagein und tagaus von fröhlichen, spektakulären aber auch von traurigen Ereignissen. Sein Uropa hatte zum Beispiel die erste Mondlandung erlebt, sein Onkel ein großes Schiffsunglück seine Oma eine Dürrekatastrophe… Sein Vater erzählte von einem heißen Juli- Tag, an dem die Sonne so erbarmungslos vom Himmel strahlte, dass alle Schulen in Deutschland hitzefrei bekommen haben. Noch heute strahlt sein Gesicht, wenn er von den jubelnden Kindern im Freibad berichtet.

Verständlich, dass der kleine Tag immer ungeduldiger wurde. Er träumte von seinem großen Auftritt: An seinem Tag sollten hunderte Königspaare gleichzeitig Hochzeit feiern, ein Raumschiff sollte zur Sonne und wieder zurück fliegen, alle Menschen sollten Frieden schließen, es sollte ein riesiges Feuerwerk geben und und und

Endlich war es soweit: Der Zeitpunkt war gekommen, der kleine Tag durfte sich auf die Reise machen. „Mach’s gut, kleiner Tag!“ rief seine Mutter ihm nach. „Sieh zu, dass es ein erfolgreicher Tag wird!“

Die Nacht löste sich auf, um dem neuen Tag Platz zu machen. Neugierig blickte sich der kleine Tag um.

Etwas stimmte nicht! Wo war die Julisonne, von der sein Vater so geschwärmt hatte? Alles war grau und ungemütlich – und vor allen Dingen bitterkalt! Da erblickte er Menschen, die durch die Straßen hasteten.

„Hallo, hier bin ich, euer neuer Tag!“ Aber keiner beachtete ihn.

„Ich muss noch soooo viel einkaufen!“, jammerte einer. „Was soll ich da sagen: Ich muss meine Tochter pünktlich abholen und dann weiter zur Arbeit fahren. Und das bei der Hektik und dem Verkehr!“ meinte ein anderer.

„Dieses  Mistwetter!“, schimpfte ein Mann „Bei dem Wetter macht das Einkaufen einfach keinen Spaß! Alles bleibt wieder an mir hängen! So ein blöder Tag!“

„Dieses Gedränge!“, maulte eine Frau „Hätte ich meine Weihnachteinkäufe nur an einem anderen Tag erledigt!“

Der kleine Tag wurde sehr traurig. Wo die nur alle hinwollen? Er zog weiter und kam an eine Fabrik. Schon von weitem hörte er die eintönigen Geräusche der Maschinen. Er schaute hinein und sah die Menschen, die darin arbeiteten. Sie machten immer die gleichen Bewegungen – stundenlang. Sie sahen nicht sehr glücklich aus.

Schnell wollte der kleine Tag weg von diesem Ort. Er war nun sehr unglücklich. Er überlegte sich die ganze Zeit, was die anderen wohl sagen würden, wenn er heute Abend zurückkäme. Was hatte er schon zu erzählen? Schimpfende Menschen, unglückliche Fabrikarbeiter… Sollte das alles gewesen sein? Er hörte im Geiste schon, wie die anderen über ihn lachten.

Plötzlich hörte er ein leises Läuten. Zögernd blickte sich der kleine Tag um.
„Die Sonne!“ jubelte der kleine Tag. Sie kämpfte sich gerade durch die Wolken und brachte den Schnee zum Glitzern. Es funkelte und blitzte, wie von tausend Edelsteinen. Wurde es vielleicht doch noch ein besonderer Tag?

Der kleine Tag raffte sich auf und folgte frohen Mutes den schönen Klängen. Da entdeckte er plötzlich viele kleine Dinge, die ihm Freude bereiteten. Jetzt sah er, woher das Leuten kam: eine Kutsche, die von zwei Pferden gezogen wurde, fuhr durch die Straße. An ihrem Geschirr läuteten unzählige Glöckchen. Ein altes Ehepaar saß in dicke Decken gehüllt beim Kutscher vorn und strahlte übers ganze Gesicht.

Dann waren da zwei Kinder, die dick verpackt aus dem Haus traten. Sie rannten um die Wette und machten eine Schneeballschlacht und lachten dabei aus vollem Hals. Das Lachen begleitete den kleinen Tag noch lange auf seinem Weg.

Als er an einem Haus vorbeikam, blickte er neugierig durch das kleine Fenster. „Was machen die denn da?“ fragte er sich gerade, als er hörte, dass der Vater zur Türe hereinkam und seine Kinder in den Arm nahm. „Ich bin heute früher von der Arbeit gekommen!“, strahlte er „Jetzt habe ich Zeit für euch und wir können zusammen mit Mama Plätzchen backen! Und heute Abend machen wir das Feuer im Kamin an und ich lese euch eine Geschichte vor!“ Die Kinder jauchzten vor Vergnügen, als sie vom Vater durch die Luft gewirbelt wurden.

Auch aus dem Nachbarhaus klangen fröhliche Stimmen. Dort wurde gerade ein wunderschöner Christbaum geschmückt. Mit leuchtenden Kugeln, Sternen und roten Kerzen.

Auf seinem Weg begegneten ihm noch viele wunderbare Kleinigkeiten: Aus einem Haus drang Plätzchenduft, eine Kerze erhellte ein dunkles Zimmer, leise Adventsmusik klang aus einer Wohnung…

Der kleine Tag flog immer fröhlicher weiter. Aber was war dort? Ein alter armer Mann saß am Straßenrand und bettelte. Eine Frau kam vorbei. Sie hielt an und sprach mit dem Mann. „Heute ist es wirklich kalt!“, meinte sie „Soll ich Ihnen etwas Warmes bringen? Ich gebe Ihnen gerne etwas ab. Im Gegensatz zu Ihnen geht es mir ja richtig gut!“

Das war aber großzügig!

Der kleine Tag flog weiter. So langsam begann es zu dämmern. Er wollte nur noch einmal ganz kurz zur Kirche hinüber huschen. Dort versammelten sich die Menschen und sangen wunderschöne Weihnachtslieder. Die Kerzen am Adventskranz brannten und der Weihnachtsbaum leuchtete.

Dem kleinen Tag wurde es ganz warm ums Herz. Glücklich summend machte er sich auf den Heimweg.

Die anderen Tage warteten schon ungeduldig auf seine Heimkehr und bestürmten ihn mit Fragen.

„Wo bist du überall gewesen?“ „Was hast du erlebt?“ „Ist etwas Besonderes passiert?“ bestürmtem sie ihn mit Fragen.

„Ruhe!“ rief der Vorsitzende der Versammlung dazwischen. „So lasst ihn doch erst einmal ankommen und in Ruhe erzählen!“

Der kleine Tag trat aufgeregt nach vorne und die Worte über seine Erlebnisse sprudelten nur so aus ihm heraus. „Mir war ganz warm ums Herz – und jetzt bin ich also wieder hier!“, beendete er seine Erzählung.

Schweigen breitete sich aus. Endlich räusperte sich jemand. „War das etwa alles?“, fragte einer der Anwesenden „Kein Unglück? Keine Katastrophe? Nicht mal ein kleines Abenteuer?“

Einer der Tage begann zu kichern und schnell stimmten die anderen mit ein. „Lichterglanz! Das ich nicht lache!“, grunzte einer der alten Tage. „Plätzchenduft und Menschen, die sich vertragen und Zeit füreinander haben! Was soll das denn?“

Der kleine Tag wäre am liebsten im Erdboden versunken. Dicke Tränen kullerten über seine Backen.

„Ruhe!“ rief da der Vorsitzende. „Warum lacht ihr? Sind leuchtende Kinderaugen und Menschen, die füreinander Zeit haben, Menschen, die sich am Glitzern des Schnees freuen und Menschen, die anderen in der Not helfen nicht das Schönste, was ein Tag erleben kann?“

Da verstummten die anderen Tage. Der kleine Tag aber konnte wieder lächeln. Noch lange klangen ihm die schönen Melodien in den Ohren….

 

 

 - Leuchtende Kinderaugen und Menschen, die füreinander Zeit haben, Menschen, die sich am Glitzern des Schnees freuen und Menschen, die anderen in der Not helfen... -

Diese schöne Weihnachtsgeschichte hörten unsere Schülerinnen und Schüler heute bei der 3. Adventlichen Stunde.

Lassen auch Sie den heutigen Tag etwas Schönes erleben!

Eine schöne und besinnliche Zeit wünscht Ihnen

das Kollegium der Grundschule Marbach